Was heißt das: in Würde leben?
Nahezu einig sind sich die meisten Menschen in ihrer Bewertung würdelosen Verhaltens, wenn es um Fälle extremer Verletzung der Menschenwürde geht.
Ihre Empörung bezieht sich dannberechtigterweise auf all das, was den meist hilflosen Opfern dabei angetan undzugefügt worden ist. Deren Würde, so ihre Forderung, müsse durchrechtsstaatliche Verfahren wiederhergestellt werden. Aber hat jemals einunschuldiges Opfer von Kriegsverbrechen, von Vergewaltigung und Demütigung dasBewusstsein für seine eigene Würde dadurch wiedererlangt, dass seine Peinigeranschließend rechtskräftig verurteilt und ins Gefängnis gesperrt wurden?
Und wie viele Jahre sollte einVerbrecher absitzen, damit sein Opfer seine verlorene Würde wiederfinden kann?Und was ist durch eine solche Tat bei genauerer Betrachtung tatsächlichverletzt worden? Die Würde des Opfers oder die des Täters? Wieso konnte solchein Verbrecher überhaupt derart würdelos handeln? Offenbar war sein Empfindendafür völlig unterdrückt und er hatte weder eine Vorstellung noch einBewusstsein seiner eigenen Würde entwickelt. Ist dafür auch jemandverantwortlich? Und wie wird dieser Jemand bestraft? Das sind ziemlichverstörende Fragen.
Deutlich leichter fällt uns dieEinordnung von Verhaltensweisen als würdelos, wenn eine Person, die eineeinflussreiche Position besetzt, ihre daraus erwachsende Macht zur Erlangungpersönlicher Vorteile auf Kosten anderer benutzt. Vor allem kirchlichenWürdeträgern, Politikern und den Leitern staatlicher Institutionen und Behördenwird dann sehr schnell und auch recht einhellig eine „Verletzung der Würdeihres Amtes“ vorgeworfen. Nicht ganz so schnell und weniger einhellig wird einderartiges Verhalten als würdelos betrachtet, wenn es sich bei denen, die sichauf Kosten anderer eigene Vorteile verschaffen, um die Manager großerUnternehmen oder um Bankenbosse handelt. Fast scheint es, als werde vonFührungskräften, die solche Positionen besetzen, ein derartiges Verhalten vonder Mehrzahl der Bürger in gewissem Umfang sogar erwartet. Weniger nachsichtigfällt die Bewertung aus, wenn sich einzelne Vertreter eines in derÖffentlichkeit sehr angesehenen Berufszweiges ähnlich würdelos verhalten. Wennbeispielsweise Ärzte ihren Patienten unnötige Operationen aufschwatzen, weildie besonders einträglich sind. Oder wenn Wissenschaftler die Ergebnisse ihrerUntersuchungen fälschen, weil sie sich dadurch Wettbewerbsvorteile für ihreKarriere erhoffen.
Wenn wichtigen Amtsträgern,einflussreichen Führungskräfte oder Vertretern angesehener Berufe würdelosesVerhalten vorgehalten wird, so geht es dabei weniger um die Frage, weshalbdiese Personen sich auf Kosten anderer eigene Vorteile verschafft haben. Esgeht primär um die Beschädigung des Ansehens, der von ihnen besetzten Ämter,Führungspositionen oder Berufszweige. Es wird auch selten die Frage gestellt,ob solche Diskussionen dazu beitragen, dass die betreffende Person sich danachihrer Würde endlich bewusst werden. Wäre es nicht viel wichtigerherauszufinden, was sie dazu gebracht hat, das Empfinden ihrer Würde so sehr zuunterdrücken, dass sie weder eine Vorstellung noch ein Bewusstsein davon entwickelnkonnten, was sie ausmacht? Und wer ist dafür verantwortlich? Wodurchunterscheidet sich ihr würdeloses Verhalten von dem eines Gewaltverbrechers?Ist der Schaden, den sie anderen Menschen durch dieses Verhalten zufügen,weniger groß? Welche Folgen hat es, wenn sie gutgläubige Kinder verführen,vergiftete Lebensmittel vermarkten, politische Intrigen schmieden, Kundenhinters Licht führen, falsche Versprechungen machen? Wenn sie andere Menschenbetrügen, hintergehen und ausnutzen? Für wen machen sie das alles? Und wozu?Weshalb werden solche Fragen in unseren öffentlichen Debatten über daswürdelose Verhalten solcher Personen so selten gestellt und noch seltenerbeantwortet?
Wahrscheinlich gibt es nichts, wasim Gehirn eines Menschen eine so tiefgreifende Inkohärenz auslöst, wie dasEingeständnis der in seinem Denken, Reden und Handeln zum Ausdruck kommendeneigenen Würdelosigkeit. Nur so lässt sich die Vielfalt der von Menschengefundenen und eingesetzten Ablenkungs- und Verdrängungsstrategien angesichtsdieser unangenehmen Erkenntnis erklären. Zu denen zählt auch der Hinweis, dasses doch alle anderen genauso machen. Und dass es gar nicht anders geht. Wiesoll ich als Mutter oder Vater mein Kind erziehen, ohne es dabei zum Objektmeiner erzieherischen Maßnahmen zu machen? Wie kann ich als Lehrer Kinderunterrichten und ihre Leistungen bewerten, ohne sie zum Objekt meinerBelehrungen und Leistungskontrollen zu machen? Wie soll ich als Leitungs- oderFührungskraft in einem Unternehmen sicherstellen, dass die Unternehmenszieleerreicht werden, ohne die Mitarbeiter zu Objekten meiner Maßnahmen undAnordnungen zu machen? Wie kann jemand als Krankenschwester oder Altenpflegerangesichts des in den meisten Einrichtungen herrschenden Zeitdrucks denPatienten und Klienten so begegnen, dass deren Würde nicht verletzt wird?
Personen, die sich ihrer Würdebewusst geworden sind, lassen sich von niemandem einreden, dass sie dies oderdas noch brauchen, um glücklich zu sein. Plakate, Werbespots, Ratgeber undAngebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zubehandeln, als könnten sie nicht selber denken und eigene Entscheidungentreffen. Was sollen die vielen Werbestrategien, Meinungsmacher und Ratgeberdann machen, wenn ihre Botschaften ungehört und ungesehen bleiben? Und was wirdmit dem vielen Geld, das ihren bisherigen Aktivitäten so überaus reichlichzugeflossen ist?
Sich ihrer Würde bewusste Menschennehmen von anderen Personen auch keine Angebote und Leistungen an, derenBereitstellung die Würde der Erbringer dieser Angebote und Leistungen verletzt.Sie gehen nicht dorthin, wo Menschen sich für Geld zur Schau stellen, siebesuchen kein Bordell, und sie kaufen auch keine Produkte, für derenHerstellung andere Menschen ausgebeutet werden. Würdevolle Menschen erlebensich aus sich selbst heraus als wertvoll und bedeutsam.
Sie brauchen weder andere, die sieund ihre Besitztümer bewundern, noch brauchen sie Macht, Einfluss, Reichtumoder irgendwelche Statussymbole, Stellungen oder Positionen, um sich alswertvoll und bedeutsam zu erleben.
Auch wird niemand, der sich seinerWürde bewusst ist, andere Menschen würdelos behandeln, sie also zum Objekteigener Absichten, Bewertungen oder gar Maßnahmen machen.
Wahrscheinlich ist die Zahl sichihrer Würde bewusster Menschen viel größer ist, als wir vermuten. Das Problemist nur, dass man sie in einer immer hektischer, bunter und lauter werdendenWelt auch zunehmend schlechter sieht und hört. Denn es ist ja ein Wesensmerkmalwürdevoller Personen, zurückhaltend zu sein, sich achtsam und umsichtig zuverhalten. Sie zeigen sich daher oftmals nur dann und melden sich auch nur dannzu Wort, wenn sie bemerken, dass etwas geschieht, was ihre Würde zu verletztendroht. Und deshalb empfinden sie es als „unter ihrer Würde“, sich an all dem zubeteiligen, womit die Anderen tagein tagaus so intensiv beschäftigt sind. Siehalten lieber still und denken sich ihren Teil. Das ist das Problem. Indem sieim Bewusstsein ihrer eigenen unverletzbaren Würde so ruhig bleiben, überlassensie aber zwangsläufig auch all jenen das Setzen von Maßstäben und dieDurchsetzung ihrer jeweiligen Interessen, die in Ermangelung eines solchenBewusstseins am lautesten kundtun, worauf es ihrer Meinung nach ankommt.Deshalb können sich diejenigen so gut durchsetzen und sich bereichern, die ihrejeweiligen Interessen mit besonderer Rücksichtslosigkeit verfolgen. Die sichPrivilegien, Macht und Einfluss auf Kosten anderer verschaffen und deshalbimmer effektiver in der Lage sind, die Richtung zu bestimmen, in die sichheutige Gesellschaften entwickeln.
In unserer globalisierten unddigitalisierten Welt kann jeder, der sich lautstark genug bemerkbar macht undeine clevere Idee hat, um andere auszutricksen und über den Tisch zu ziehen, zuAnsehen, Macht und Einfluss gelangen. Und diejenigen, die damit besonderserfolgreich sind, werden dafür auch noch bewundert und erlangen eine unwürdigeVorbildfunktion, insbesondere für Heranwachsende, die noch gar keineGelegenheit hatten, ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde herauszubilden.
Für diejenigen Erwachsenen, denenes gelungen ist, sich ihrer Würde als Mensch bewusst zu werden, wird es deshalballerhöchste Zeit aufzuwachen. Wer sonst, wenn nicht sie wären in der Lage,dieser unwürdigen Entwicklung Einhalt zu gebieten? Wer könnte in klaren undunmissverständlichen Worten und durch menschenwürdiges Verhalten zum Ausdruckbringen, dass sie oder er bereit ist, nicht nur Verantwortung für die Wahrungder eigenen Würde zu übernehmen, sondern auch all jenen zu helfen, denen dieHerausbildung eines Bewusstseins ihrer Würde bisher versagt geblieben ist? Eswird nicht ausreichen still zu halten und zu versuchen, ein gewissesVerständnis für das würdelose Verhalten anderer aufzubringen. Es nützt auchnichts, sich darüber zu empören. Es wird nötig sein, sich zu zeigen und esnicht länger als unter seiner Würde zu betrachten, öffentlich Stellung zubeziehen, auszusprechen, was man so nicht länger hinzunehmen bereit ist, und imRahmen seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, dass die Würde von Menschen nichtlänger mit Füßen getreten, verletzt und untergraben wird.
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