Trauma kann so unspektakulär sein
Dies ist ein Gastbeitrag von einer gestandenen Frau, die anonym bleiben möchte. Sie befindet sich seit einiger Zeit im Heilungsprozess. Zu diesem Prozess gehört die klare Einlassung darauf, dass es ein Prozess ist und es keine Sofortwirkpille gibt. Das überforderte Nervensystem hat sich, wie es jetzt ist, über lange Zeit so entwickelt und ausgeprägt. Die Erfahrungen sind im Körper abgespeichert und schwer zugänglich. Es braucht neue und gleichzeitig korrigierende Erfahrungen, um sich mit der Zeit wirklich heilsam wandeln zu können. Es braucht eine traumasensible Hinwendung, um die Signale des Körpers zu hören und zu verstehen. Diese Art von Trauma ist "unspektakulär", es wird also nicht gern angeschaut. Die Autorin trägt einen, ja, ihren Teil dazu bei, das Thema Traumatische Erfahrungen und ihre Folgen ein Stückchen weiter ins Licht zu rücken. Wenn die Anpassungen eines Kindes an ungünstige Bedingungen im Umfeld so stark sein müssen, um Bindung aufrecht zu erhalten und damit das Überleben zu sichern, wird es später schwer werden, sich der eigenen Würde bewusst zu werden. Genau um dieses Bewusstsein geht es bei jedem dieser Heilungsprozesse: Verbindung zum eigenen wahren Kern aufbauen und daraus in die Aufrichtung zu kommen.
Als ich den Artikel auf Facebook las, kam sofort die Idee einer Veröffentlichung hier. Unter dem Pseudonym "Das kleine Wudedigi" zeigt sie sich mit ihren persönlichen Schilderungen. Sie hat einer Veröffentlichung zugestimmt. Herzlichen Dank.

Als passender Buchtipp sei genannt: Wenn der Körper Nein sagt von Dr. Gabor Maté

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Traumatherapie

Traumtherapie? Du warst doch gar nicht im Krieg?

Traumatherapie? Hattest du einen Unfall?

Traumatherapie? Bist du überfallen worden?

Nein, nichts von alledem. Trauma kann so unspektakulär sein. Verletzungen an der Seele sind nicht sichtbar, meistens. Und wenn, dann nur bei sehr genauem Hinschauen. Und dennoch sind sie Alltag. Zumindest für die Betroffenen. Die Babys, die lernen, dass sie schreien können, solange sie wollen, es kommt keiner, sie sollen doch möglichst schnell lernen, alleine zu schlafen. Die Kinder von ganz normalen Alkoholikern, die lernen müssen, sich auf nichts verlassen zu können. Der übliche Alltagskram, dass man nur geliebt wird, wenn man gute Noten schreibt oder was leistet und nicht, weil man einfach da ist. Grundgefühl: ich bin wertlos, außer ich leiste, gefalle oder falle zumindest nicht auf.

Kennen viele, so oder so ähnlich. Und dann fängt‘s auch schon an, man definiert sich nur über Leistung und noch besser und noch mehr davon und weiß gleichzeitig, es wird niemals genug sein, weil man selbst nicht genug ist. Ja, und man muss lieb und nett sein, keine Konflikte, auf keinen Fall, da kann man nur verlieren. Keine Flucht, keine Verteidigung möglich. Nur todstellen. So fühlt sich‘s dann auch an.

Darf‘s ein bisserl mehr sein?

Ist doch klar, dass ich trinken muss, wenn du immer so frech bist. Sonst bist du ja nicht zum aushallten!

Hätte ich dich doch bloß abgetrieben! Wegen dir werde ich mich noch umbringen. Du wirst mit Sicherheit in der Gosse landen! Und dann werde ich mich umbringen und du bist schuld. Sowieso, allgemein und überhaupt.

Das und noch vieles mehr ist Kleinkram.

Mein Kleinkram.

Mein Nicht-weglaufen-können. Mein Ausgeliefertsein. Meine Hilflosigkeit.  Meine Angst. Meine Wut und meine Scham.

Meine Vergangenheit…

Diese Dinge sind im Gehirn ohne Datum abgespeichert. Wenn sie vom Unterbewusstsein hochgespült  werden, sind sie da. Hier und jetzt. Kein Kampf, keine Flucht. Erstarrung. Jeder Konflikt ist ein kleines bisschen Sterben.

Meine Sensibilität ist lediglich Wachsamkeit. Trainiert durch die Erfahrungen, dass Kommunikationsfehler entsetzliches Leiden nach sich ziehen können, gefühlt tödlich enden können. Jede Mimik, jede Gestik, den Geruch, die Schwingung in der Stimme wahrzunehmen war überlebenswichtig

Jetzt, hier, heute, darf mir niemand mehr erklären, dass ich aber doch jetzt bitte wieder ins Jahr 2020 zurückkehren soll, wo ich doch ein schönes Leben haben kann.

Alles, das ganze nachfolgende Leben baut darauf auf, was in der Vergangenheit war, wenn sie traumatisch war. Die Verletzungen hinterlassen Narben, die Einschränkungen verursachen.

Ich kann nicht für mich einstehen, weil ich sehr lange gelernt habe, dass ich es nicht darf und vor allem gar nicht wert bin.

Ich kann nur sehr schwer Entscheidungen treffen, weil ich mich nicht fühlen durfte und es irgendwann nicht mehr konnte. Alles musste ins Kalkül gezogen werden, damit ich alle Risiken minimieren konnte. Jeder Kontakt wie ein Schachspiel. Ein falscher Zug und du bist matt.

Was für unversehrte Menschen vielleicht nach zu viel Drama klingt:

Kinder, die so aufwachsen, wissen instinktiv, dass sie ganz und gar abhängig und damit auch völlig ausgeliefert sind. Keine Möglichkeiten zu flüchten oder sich zu verteidigen, weil es sonst keine Chance zum Überleben gibt. Nur totstellen. Zusammenreißen. Man lebt halt so damit. Man kennt es nicht anders. Bis man Älter wird und die Kraft einfach aufgebraucht ist, man alle Schmerzen weggedrückt und alle Zeichen ignoriert hat.

Ich bin so unendlich müde, weil ich so viel Kraft zum Überleben gebraucht hab.

Zum Sichern, zum Funktionieren, zur Selbstkorrektur, zur Unterdrückung meiner selbst….

Nein ich wusste nicht, dass ich traumatisiert bin. War ja alles normal. Irgendwo tief in mir war immer diese Traurigkeit, Hilflosigkeit, Angst, Unruhe,…

Nun darf ich lernen. Mein Körper hilft mir dabei.

Schmerzen in den Gelenken, damit ich merke, dass ich mich bewege, Schmerzen in der Wirbelsäule, damit daran erinnert werde, aufrecht zu stehen. Schwindel, damit ich meine Balance im Inneren suche. Tinnitus zum Lauschen nach innen. Herzrhythmusstörungen um meinen eigenen Rhythmus zu finden. Gastritis um zu verhindern, dass ich noch mehr schlucke…

und meine Schilddrüse, die mir so lange geholfen hat, den Ball flach zu halten und mich nun mahnt, dass ich etwas tun darf, um den Druck von ihr zu nehmen, weil sie sonst noch mehr Tumore wachsen lassen muss. Restless Legs und –Hands, damit ich endlich spüre, welche Wut in mir tobt, dass ich sie nutzen darf, dieser, meiner Wut über all die Verletzungen, Ungerechtigkeiten, Demütigungen, Missachtung und Missbrauch, Ausdruck zu verleihen. Es muss erstmal nicht schön werden, nur ein wenig kanalisiert. Ich erlaube mir, so richtig Dreck zu machen, ich erlaube mir mein Chaos. Das erste Mal ganz groß, das erste Mal ganz meins! Und aus dieser Fülle werde ich schöpfen. Es wird alles da sein, was ich brauche. Manches wird als warnende Erinnerung  dienen, wie es nicht gehen soll. Alles andere wird den richtigen Platz finden, an dem es mir helfen wird, mich in mir zuhause zu fühlen.

18.07.2020
Foto: Eigene Aufnahme

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